Review: CARRIE – DES SATANS JÜNGSTE TOCHTER - Das scheue Reh, der grausame Engel, der manierierte Onkel




Fakten:
Carrie – Des Satans jüngste Tochter
USA. 1976. Regie: Brian De Palma.
Buch: Lawrence D. Cohen, Stephen King (Vorlage). Mit: Sissy Spacek, Amy Irving, Piper Laurie, Nancy Allen, John Travolta, William Katt, P.J. Soles, Priscilla Pointer u.a. Länge: 94 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Carrie White, sechszehn Jahre alt, ist auf ihrer Schule andauernd dem Hohn und Spott ihrer Mitschüler ausgesetzt. Da ihre religiös-fanatische Mutter Margaret sie nie aufklärte, erleidet Carrie einen Schock, als ihre Regel nach dem Schulsport zum ersten Mal einsetzt, was zur Folge hat, dass Carrie nur noch mehr unter dem Spott der anderen zu leiden hat. Doch was niemand weiß ist, dass mit ihrer Periode auch geheimnisvolle Kräfte in Carrie erwachen.





Meinung:
Der unglimpflichen Beschuldigung der Misogynie hat sich Brian De Palma schon oft genug stellen dürfen: Immer wieder müssen in seinen Filmen Frauen leiden, mal werden sie phallisch mit dem Schlagbohrer malträtiert, mal vor dem vom Feuerwerk erstrahlten Nachthimmel demonstrativ erdrosselt. Man darf diesen Szenen durchaus ein gewisses Maß an Frauenhass zugestehen, so repetitiv De Palma sich immer wieder in „Dressed to Kill“, „Blow Out“ und „Der Tod kommt zweimal" darauf bezogen hat: Frauen mussten exzessiv leiden, durften aber selber nicht (physisch) quälen. Eine derartige Debatte aber auf De Palmas ersten großen Klassiker „Carrie – Des Satans jüngste Tochter" auszuwalzen, zahlt sich schlichtweg als unnötig aus, offenbart De Palma doch hier ein wirklich aufrichtiges Interesse an seiner fragilen Hauptakteurin Carrie White. Wenn hier dann mal einer Dame eine Backpfeife in das Gesicht segelt, dann bleibt es ein gleichgeschlechtliches Unterfangen: Frauen teilen aus, Frauen stecken weg.


Mutti ist die Beste
Doch auch wenn De Palma hier offen seine Zuneigung zu Carrie White ausspricht, ist er trotzdem in der Lage, einen feministischen Stoff dieser Größenanordnung von Stephen King adäquat auf die Leinwände zu bannen? Die Antwort gleicht einem zweischneidigen Schwert: Jaein. Während sich die Kamera von Mario Tosi jede Möglichkeit ausnutzt, um sich am Körper seiner zerbrechlichen Protagonistin festzusaugen, jeden Zentimeter zu erkunden, ohne aber De Palma dabei wollüstige Absichten unterstellen zu wollen, geht die introspektiv Dynamik der Vorlage im Überdruss der technischen Finesse schnell unter. Die von Lawrence D. Cohen verfasste Kinoübersetzung von Kings Debüt, dass von seiner Kings Frau glücklicherweise aus der Mülltonne gefischt wurde, gibt sich mit stringentem Fokus auf Carrie, evoziert Stimmungen aber beinahe ausschließlich durch seine visuellen Sperenzchen: Wunderschöne, mit höchster Kompetenz durchgeführte Plansequenzen, Zeitlupen und Split-Screens, lassen das Herz des rein auf handwerkliche Aspekte blickenden Rezipienten gewiss höher schlagen, wo aber bleibt in De Palmas-Version der Diskurs über tiefe Ängste innerhalb der Adoleszenz?


Keine Sorge, das ist nicht ihr Blut.
Inmitten obligatorischer Hitchcock-Anleihen, zu denen De Palma ein bindendes Verhältnis führt, hinter seinen ästhetischen Manierismen, die den eigentlich Naturalismus der Handlung oftmals in gar prätentiöse Dimensionen versetzt, bleibt ein ehrlicher Blick auf das zerschundene Leben einer Pubertierenden, die langsam telekinetische Fähigkeiten entwickelt, deren soziale Entwicklung zur eigenständigen, autarken Persönlichkeit seit jeher exorbitante Riegel vorgeschoben wurde: Ihre Mutter, eine fundamentalistische Fanatikern, versucht ihr ihre Sexualität als Sünde vorzuenthalten, in der Schule wird Carrie als Außenseiterin jeden Tag drangsaliert und gedemütigt. Was als schrecklich unangenehme Auftakt in der Dusche beginnt, in der von ihrer Carrie ersten Periode überrascht wird und – aufgrund der fehlenden Au-klärung ihrer Anatomie – er hysterische Panikattacke verfällt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Kumulieren wird das Szenario erst auf dem Abschlussball, der erschütternden Klimax, wenn sich das „hässliche Entlein“ zum Schwan verwandelt und wir als Zuschauer zusammen mit Carrie kurzzeitig einer rosigen Zukunft entgegenblicken dürfen. Kurzzeitig.


Der Rest ist Geschichte: Der Eimer, das Schweineblut, der Amoklauf im hermetischen Raum; Fleisch und Blut, die Flucht in die Arme der Mutter, die Stigmata, Feuer, kreischende Geigen, die Apokalypse – Fast. Die letzte halbe Stunde gibt sich als hervorragendes und paralysierendes Suspense-Kino und lässt das schüchterne Mädchen mit den fettigen Haaren und den Sommersprossen zur Täterin mutieren, welche ihrer eigenen Kraft, gebündelt als Zorn und Scham, dann doch unkontrollierbar unterlegen ist. Das Anmutige geht hier mit dem Abscheulichen oftmals Hand in Hand, eine schwülstige Romantik steht einer bitteren Drastik entgegen, einer ambivalente Dualität auf der Ton- und Bildebene, die sich heute zum metaphorischen Zeitdokument geformt hat. Effektiv, aber im Kontext seiner Hauptfigur verwerflich konträr gibt sich dann leider die letzte Szene, in der De Palma Carrie doch zum Monster degradiert, nur um einen unerwarteten Schock zu entfachen. Nein, subtil ist „Carrie“ wahrlich nur in seltenen Momenten, aber das hätte nicht sein müssen.


6 von 10 beschmierten Grabsteinen


von souli

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